«Die Schweiz kann jederzeit ein EWR-Beitrittsgesuch stellen»

Kevin  - Team s+v
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6 December 2022 Temps de lecture: 7 minutes
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Georges Baur
Am 6. Dezember 1992 hat das Schweizer Stimmvolk einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) knapp verworfen. Nun, 30 Jahre später, wird der EWR plötzlich wieder zum Thema. Neuste Umfrageergebnisse zeigen, dass sich über 70 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer einen EWR-Beitritt in den nächsten Jahren vorstellen könnten. Doch wie würde das konkret aussehen? Und wie würde sich eine EWR-Mitgliedschaft der Schweiz auf die aktuellen Probleme auswirken? Diese und weitere Fragen konnten wir Dr. Georges Baur stellen.

Zur Person

Dr. iur. Georges Baur ist seit 2018 Forschungsbeauftragter im Fachbereich Recht am Liechtenstein-Institut. Zuvor war er als stellvertretender Missionschef bei der Mission des Fürstentums Liechtenstein bei der EU und stellvertretender Botschafter beim Königreich Belgien in Brüssel sowie als Beigeordneter Generalsekretär der EFTA tätig

Georges Baur, was ist der Europäische Wirtschaftsraum – kurz auch EWR genannt – und mit welchem Ziel wurde er gegründet?

Der EWR basiert auf einem Abkommen zwischen der Europäischen Union und den EFTA-Staaten. Diese können am EU-Binnenmarkt teilnehmen, ohne Mitglied der EU zu sein. Es handelt sich also um einen um die drei EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen erweiterten Binnenmarkt. In diesem gelten die vier Freiheiten (für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen) sowie gemeinsame Wettbewerbsregeln und verschiedene flankierende Politiken, wie Umwelt-, Datenschutz- oder Konsumentenschutzrecht. Dazu kommt auch die Beteiligung an Forschungsprogrammen etc. sowie Kohäsionszahlungen an Empfängerstaaten in der EU.

Die Schweiz hat sich am 6. Dezember 1992 an der Urne knapp gegen eine Mitgliedschaft entschieden. In der aktuellen Diskussion um unsere europapolitische Zukunft taucht der Begriff aber immer wieder auf. Wäre ein Beitritt unseres Landes heute – 30 Jahre nach dem Volks-Nein – wieder möglich? Und wie würde das Beitrittsverfahren aussehen?

Das EWR-Abkommen sieht ausdrücklich vor, dass die Schweiz jederzeit ein Beitrittsgesuch stellen kann. Die EU-Staaten, vertreten durch die EU-Kommission sowie die drei bisher am EWR beteiligten EFTA-Staaten müssten diesem Gesuch aber zustimmen. Zu betonen ist, dass die Schweiz dem EWR-Abkommen in der Form beitreten müsste, die es heute hat. Alle EU-Regeln, die seit 1992 in den EWR aufgenommen worden sind, gehören dazu. In einem Beitrittsabkommen könnten z.B. Übergangsfristen festgehalten und gegebenenfalls wenige Ausnahmen festgeschrieben werden. Diese dürften allerdings kaum den Rahmen dessen sprengen, das den anderen drei EFTA-Staaten zugestanden wurde.

Die Erosion des bilateralen Wegs ist Fakt. Für unser Land ist es daher wichtig, möglichst bald eine Lösung für die künftige Ausgestaltung der Beziehungen zur EU zu finden. Wann könnte die Schweiz frühestens Mitglied des EWR werden?

Nach meiner Einschätzung könnte ein EWR-Beitritt ziemlich rasch erfolgen. Selbstverständlich hinge dies stark davon ab, welche Übergangsfristen und vor allem Ausnahmen die Schweiz verhandeln wollen würde. Je extravaganter und umfassender die Forderungen, desto länger die Verhandlungen. Ausserdem müsste auch das Resultat einer Volksabstimmung abgewartet werden. Das dauert nach Abschluss der Verhandlungen nochmals ungefähr ein Jahr.

Es gibt immer wieder Stimmen, die sagen, dass ein EWR-Beitritt für die Schweiz zwar durchaus Vorteile mit sich bringt. Die aktuellen Streitpunkte in der Debatte über die Überwindung der europapolitischen Blockade vermag er jedoch nicht zu lösen. Ein bekanntes Beispiel ist die Unionsbürgerrichtlinie. Wie setzen die EWR-Staaten (Norwegen, Island und Liechtenstein) diese um?

Dass die aktuellen Streitpunkte mit einem EWR-Beitritt nicht einfach gelöst werden, ergibt sich schon daraus, dass sich die EU bei den Verhandlungen mit der Schweiz natürlich am EWR orientiert hat. Sie ist überdies bestrebt, der Schweiz nicht weitergehende Zugeständnisse zu machen, als sie dies gegenüber den anderen drei EFTA-Staaten getan hat.
Was die Unionsbürgerrichtlinie anbelangt, so war auch die Verhandlung mit Island, Liechtenstein und Norwegen über deren Übernahme in das EWR-Abkommen nicht einfach und dauerte lange. Letztlich hat man sich darauf geeinigt, dass die spezifischen, mit der Unionsbürgerschaft im Zusammenhang stehenden Bestimmungen nicht zu übernehmen sind. Soweit im Übrigen Unklarheiten bestehen, obliegt die Auslegung fallweise dem EFTA-Gerichtshof bzw. dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie in das nationale Recht hat bisher in den EWR-Ländern nicht die Probleme gebracht, welche man in der Schweiz befürchtet. So ist es beispielsweise nirgends zu einer «Einwanderung in die Sozialsysteme» gekommen.

Welche Auswirkungen hätte eine Schweizer EWR-Mitgliedschaft auf die flankierenden Massnahmen?

Die flankierenden Massnahmen müssten EWR-konform gestaltet werden, d.h. wie bei den drei anderen EFTA-Staaten entsprechend der EU-Entsenderichtlinie in ihrer neuesten Fassung (2018). Soweit Massnahmen nicht in den Regelungsbereich der Richtlinie fallen, ist die Schweiz frei, flankierende Massnahmen zu erlassen, solange sie verhältnismässig und nicht diskriminierend sind sowie den freien Personenverkehr nicht behindern.

Zwei weitere, und hierzulande viel umstrittene Themen sind die automatische Rechtsübernahme und die institutionalisierte Streitbeilegung. Wie funktioniert die Übernahme von Binnenmarktrecht in den EWR-Staaten?

Zunächst einmal ist klarzustellen, dass die Übernahme von EU-Recht nicht automatisch erfolgt, sondern dynamisch. Der Unterschied kann am Beispiel des Zollanschlussvertrags zwischen der Schweiz und Liechtenstein verdeutlicht werden: Bei der Übernahme schweizerischen Rechts hat Liechtenstein im Prinzip nichts zu sagen und nimmt weder an dessen Gestaltung teil, noch kann es Abweichungen verlangen, soweit nicht z.B. konkurrierendes EWR-Recht besteht. Das ist automatische Rechtsübernahme.
Im EWR werden die drei EWR/EFTA-Staaten von Beginn an über das EFTA-Sekretariat in Brüssel über neue EU-Rechtsakte informiert. Bevor der Entwurf eines Rechtsakts zur Beschlussfassung an die EU-Institutionen geht, können Experten der EWR/EFTA-Staaten an dessen Gestaltung mitwirken. Während der Gesetzgebungsphase in der EU klären die EWR/EFTA-Staaten, ob ein künftiger Rechtsakt (z.B. Richtlinie, Verordnung) überhaupt vom Regelungsbereich des EWR erfasst ist. Wenn dies der Fall ist, wird geklärt, ob und gegebenenfalls welche Anpassungen vorzunehmen sind. Formal erfolgt die Übernahme im Gemeinsamen Ausschuss durch Einigung zwischen den Vertretern der drei EWR/EFTA-Staaten und der EU.
Im Übrigen ist die Schweiz in den verschiedenen EFTA-Gremien, in welchen die Übernahme und allfällige Anpassungen diskutiert werden, schon heute als Beobachterin stets vertreten.

Wie werden individuelle Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmen, Einzelpersonen usw. und anderen Privaten oder Behörden in innerstaatlichen Verfahren mit EWR-Bezug gelöst?

Diese Einzelfälle werden vor nationalen Gerichten ausgetragen, können aber Gegenstand eines Verfahrens vor dem EFTA-Gerichtshof sein. Meistens taucht in einem nationalen Verfahren eine Frage des EWR-Rechts auf und das befasste Gericht legt diese Frage dem EFTA-Gerichtshof zur Beurteilung vor. Beispiel: Ein in Norwegen tätiges Bauunternehmen wird von der Gewerkschaft vor dem norwegischen Gericht eingeklagt, die geltenden Mindestlohnvorschriften nicht auf Arbeitnehmende aus Slowenien angewendet zu haben. Das lokale Gericht befragt dann den EFTA-Gerichtshof, ob die norwegischen Mindestlohnvorschriften mit der EU-Entsenderichtlinie im Einklang stehen.

Und wie werden Rechtsstreitigkeiten zwischen den EWR/EFTA-Staaten und der EU gelöst?

In diesem Fall geht es um die Streitbeilegung zwischen den Parteien über die Auslegung des EWR-Abkommens, also um einen Grundsatzstreit, der auf politischer Ebene nicht beigelegt werden konnte. Zu einem solchen ist es in den beinahe 30 Jahren seit Inkrafttreten des EWR-Abkommens nie gekommen.

Wo bietet eine EWR-Mitgliedschaft Chancen für die Schweiz? Wie ist beispielsweise der Zugang von EWR-Staaten zu den europäischen Kooperationsprogrammen Horizon Europe, Erasmus+ und Creative Europe geregelt?

Die Teilnahme ist im EWR-Abkommen festgeschrieben. Dabei können die drei Staaten entscheiden, an welchen Programmen sie teilnehmen wollen und sind dabei nicht an das Prinzip gebunden, wonach sie grundsätzlich gemeinsam entscheiden müssen. Zudem werden Norwegen, Island und Liechtenstein hinsichtlich der Kosten bei einer Teilnahme behandelt, wie wenn sie EU-Mitgliedstaaten wären. Sie bezahlen also nicht die höheren Kosten eines Drittstaats.

Welche Vorteile würde ein Beitritt zum EWR-Abkommen der Schweiz bringen?

Das Abkommen deckt den wesentlichen Teil des Binnenmarktrechts, insbesondere alle vier Freiheiten ab. Ein Beispiel dazu: Dank der Dienstleistungsfreiheit könnten Schweizer Banken und Versicherungen aus der Schweiz europäische Kunden bedienen und Schweizer IT-Unternehmen könnten ihre digitalen Produkte und Dienstleistungen Kunden in der EU zu denselben Bedingungen anbieten wie ihre Konkurrenten in der EU. Zudem basiert es, anders als alle bisherigen Abkommen, welche die Schweiz mit der EU geschlossen hat, einschliesslich des gescheiterten Institutionellen Rahmenabkommens, auf der Vorstellung, dass es in erster Linie um die Rechte des Individuums und der Unternehmen geht. Folglich gibt es auch internationale Überwachungs- und Gerichtsinstanzen, welche dem Individuum und den Unternehmen gegebenenfalls auch gegenüber dem eigenen Staat zu ihrem Recht verhelfen können. Das EWR-Abkommen deckt aber die meisten anderen Politiken der EU, wie Justiz, Sicherheit, Zoll, Währung, Landwirtschaft oder Handel nicht ab. So haben die EWR/EFTA-Staaten weiterhin die Freiheit, ihre eigene Freihandelspolitik zu führen. Die Währungsunion ist auch nicht Teil des EWR. Die Schweiz könnte den Franken also weiterhin behalten und eine eigene Währungspolitik verfolgen.

Welche Punkte würden eher gegen einen Beitritt der Schweiz sprechen?

Negativ schlägt zu Buche, dass ein EWR/EFTA-Staat natürlich nur beschränkt an der Gestaltung der Rechtsakte, die er zu übernehmen hat, mitwirken kann. Insbesondere ist er an der eigentlichen Gesetzgebung nicht beteiligt. Aus Schweizer Sicht dürfte auch die grundsätzliche Verpflichtung, zusammen mit den anderen drei EFTA-Staaten mit einer Stimme zu sprechen, nicht einfach zu akzeptieren sein. Schliesslich dürften auch die derzeitigen Fristen, welche den EWR/EFTA-Staaten bei der Rechtsübernahme zur Erledigung ihrer verfassungsmässigen Verpflichtungen zur Verfügung stehen, also im Fall der Schweiz, z.B. das Abhalten eines Referendums, etwas knapp sein.

Die anderen EFTA-Staaten wurden schon mehrfach erwähnt. Wie stehen diese zu einem Beitritt der Schweiz?

Gerade auf Grund des letztgenannten Punkts rechtfertigt sich ein Blick auf die Position der drei anderen EFTA-Staaten hinsichtlich einer Teilnahme der Schweiz am EWR: Diese würde die Position der EFTA-Staaten und damit auch das Abkommen als Ganzes erheblich stärken. Auch die EU würde einen solchen Schritt sicherlich begrüssen, da die für sie umständlichen Bilateralen dahinfallen würden. Andererseits besteht seitens der EWR/EFTA-Staaten, aber auch der EU, die Befürchtung, dass eine extensive Anwendung des Referendumsrechts bei der Übernahme von EU-Rechtsakten das Funktionieren des EWR erheblich beeinträchtigen könnte. Aus diesem Grund besteht auch eine gewisse Sympathie für die Idee, dass die Schweiz nur den EWR/EFTA-Institutionen beitritt, im sachlichen Anwendungsbereich aber selbständig bleibt.

 

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